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Kritzendorf: Garten zwischen Flut und Glut

Die Strombadsiedlung Kritzendorf, von einer Ausstellung im Wien Museum gerade als „Riviera an der Donau“ gefeiert, erweist sich bei näherem Hinschauen als sperrige Schönheit, die von ihren Bewohnern vor allem zwei Dinge verlangt: Hingabe und Treue.

Bleibt der Sommer friedlich? Diese Frage stellt der Kritzendorfer Siedler leise. Die anderen, etwas lauteren Gespräche prangern eine noch immer nicht restlos aufgeräumte Brandruine an der Ostflanke der Siedlung an, behandeln die nervige Pumpe im Schwimmbad des A., kritisieren die schlimmen Kinder der B. oder analysieren den Sauhaufen im Garten der Cs., nach deren grossem Grillfest, das die konsensual festgelegten Lärmvorschriften doch eindeutig verletzt habe.

Noch lauter wird der Siedler, wenn er erklärt, dass der Wirt des Donaurestaurants heute, und zwar nur noch heute, dieses erstklassige Schwammerlgulasch auf der Karte habe, oder wenn er beklagt, dass die zweite am Gestade gelegene Restauration, der Sienel, wegen „Überlaufenheit“ durch Radlfahrer kaum noch zu besuchen sei. Oder wenn der nächste vom Besuch dieser Ausstellung im Wienmuseum berichtet, wo unter dem schmeichelnden Titel „Kritzendorf, Riviera an der Donau“ das Leben am Fluss wieder ein bisschen einfacher geredet werde, als es eigentlich sei.

Augenblicklich wirkt alles ganz leicht: Die Riesenweiden links und rechts der Strombadwiese fächeln sacht mit ihren ausladenden Ästen. Metallisch arbeitet der Wind in den Blättern der Pappeln. Schilf raschelt. Nur die von vereinzelten Föhren fallenden  Bockerln fetzen manchmal durch die Siesta. Kinder erbetteln das dritte Eis des Tages.
Doch man weiss: Im Perfekten nistet die Panik. Und der Mensch im Inneren der Idylle macht gern die Apokalyptik zu seinem Steckenpferd.

Bleibt der Sommer friedlich? Zwei alte Damen stehen am Treppelweg im Schatten der Weiden. Die eine steckt im multicoloren einteiligen Badeanzug, die zweite trägt ein Kopftuch wie einen Turban. Ihr Schwiegersohn, bemerkt die erste, habe ja lange Zeit in Ägypten gearbeitet, und dort gebe es diese ganz und gar schreckliche Prophezeiung, wonach auf einen Flutsommer und einen Glutsommer stets und verlässlich ein Blutsommer folge.

Die zweite kündigt an, sich jetzt langsam auf den Weg stromaufwärts zu machen. Der Spaziergang, ergänzt sie, sei ja bekanntlich die erste Hälfte des Vergnügens. Erst dann komme das Bad.

Am Grund der Hölle. Im Flutsommer zweitausendundzwei war hier das Klo der Welt, war hier der Schauplatz der geheimen Offenbarung, war hier ein Spiegelbild des Rio Grande am Grund der Hölle.

Diese Flut, die gross genug war, dem österreichischen Finanzminister sein Nullbudget zu vermiesen und dem deutschen Bundeskanzler seiner Gummistiefel wegen zur Wiederwahl zu verhelfen, sie schmiss sich mit allem, was an ihr übel war, auf Kritzendorf, den treuesten Garten des Stromes Donau. Ein Vorbote der Flut, ein kleineres Hochwasser, kam schon im späten Frühjahr, im Juli erschien sie selbst, hielt kurz inne, und kehrte im August als alles verschlingendes Höllenwesen wieder. Nach ihr herrschten Verwüstung, Auflösung, Tristesse und Pestilenzgeruch. Die Flut hatte sämtliche Schleusen des Stromes geöffnet, aber sie hatte auch die Senkgruben zum Überschäumen, die Kanäle zum Platzen gebracht, und jener stumpf-schwarze Schlamm, der nun, nachher, über den Stränden, auf den Liegewiesen und meterhoch in den Gärten der Stelzenhäuser ausgebreitet lag, atmete den Geruch einer fäkalen, untoten Gegenwelt.

Als die Freiwillige Feuerwehr und die ersten Wassernachbarn mit ihren Zillen in die Kanäle aufbrachen, die vordem die Gässchen und Strassen der Siedlung Kritzendorf gewesen waren, erzählten sie von ganzen Dächern, die hunderte Meter von ihren Häusern entfernt an Auwaldriesen zerschellt waren, von Rehkadavern, die aufgeschlitzt in Gartenzäunen hingen, und sie berichteten von einer allgegenwärtigen, malzkaffeebraunen Flussbrühe voll Leben und Tod, die, einzige Verheissung, jetzt aufgehört habe zu steigen.

In den Monaten nach diesem von Kloakenwasser zerschmetterten Hochsommer nahmen die Kritzendorfer jedes Ding in ihren gefluteten Häusern (nur ganz wenige besassen Stelzen von einer Länge, die sie vor der Kloake beschützte) in die Hand, betrachteten und wogen es, und von zehn Dingen mussten neun weggeworfen werden. Sperrholzhaufen wie mehrstöckige Häuser wuchsen in den Knoten der Siedlung. Einige Siedler bauten neue Häuser, andere verkauften die ihren und zogen weg. Eine Siedlerin, die Jahrzehnte hier ist, sagt: Das Hochwasser macht alles kaputt, und dann mischt es die Leute neu.

Naturliebe & Ribiselwein. Es gibt ein Kritzendorfbewusstsein, und es gibt ein heterogenes Kritzendorfmilieu. In der Siedlung und dem dazugehörigen Strombad mischen sich seit mehr als einem Jahrhundert die besseren Seiten Niederösterreichs und Wiens und bekanntlich stehen einander Österreichs grösstes Bundesland und seine darin eingeschlossene grösste Stadt, zartfühlend gesagt, argwöhnisch gegenüber.

Nicht hier: Franz-Josefs-Bahn und der Wille zum jungen Ritus Sommerfrische beförderten zur vorletzten Jahrhundertwende die Hauptstädter nach Nordwesten, wo sie den Liebreiz ihres hier noch unschuldigeren und reineren Stromes entdeckten. 1903 eröffnete das Strombad, und die ersten bewohnbaren Badehäuschen, nach einem frühen jüdischen Siedler die Löwensteinhütten genannt, wurden bezogen.

Wanderbewegung, Naturliebe und Körperkultur, soziokulturelle Novitäten in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, standen ebenso hinter dem durchschlagenden Erfolg des Konzeptes Kritzendorf wie der süsse Ribiselwein, für den die Gegend vor hundert Jahren berühmter war als für den heute verbreiteten reschen Weissen.

Metropolenkultur in Ferien, die sich bis heute etwa am Semmering und in Reichenau sommers zu etablieren pflegt, strebte damals auch donauaufwärts, Konzerte, Tanz-Soires und gesellschaftliche Grossereignisse unter Mitwirkung der Kunstprominez bildeten die Säulen, zwischen denen das Kritzendorfer Sommergefühl wie ein feines Netz hing.

1938 ff. wurden mehr als drei Viertel der Kritzendorfer Häuser als jüdischer Besitz enteignet und arisiert. Sieben Jahre lang tobten sich die Nazis und ihre Hofschranzen am Donauufer aus. Zu Kriegsende 1945 setzte der Kritzendorfer Bürgermeister Hans Reif einen für österreichische Verhältnisse einmaligen Akt und enteignete alle Ariseure mit einem einzigen Entscheid. Dennoch kehrten kaum Vertriebene in das alte Krize-les-Bains zurück, sie verkauften ihre Hütten und Häuser, und das, was hier ein, zwei Jahrzehnte ein bisschen nach weiter Welt und Riviera gerochen hatte, verschwand.
Heute ist Kritzendorf, was es angenehm macht, eine schwer einzuordnende Mischung von Menschen ostösterreichischer Prägung. Snobs hausen Zaun an Zaun mit Mundls. Wiener Künstler verblassen neben Originalen, die hier am Wasser weltberühmt sind. Man duldet und erduldet sich.

Amir, der türkischstämmige Greissler des Strombads, ein Esperanto-Aktivist und Philantrop, verkauft Wurstsemmeln und gefüllte Weinblätter, Schwimmflügerln und betagte Illustrierte. An den Abenden stellt er einen kleinen Tanzboden auf und veranstaltet Sambakurse, und manchmal ist wieder ein Hauch der alten Rivieragefühle da.
Das Bad lässt jeden ein, der Eintritt ist frei, und auf sehr spezielle Art reinigt die Donau alle.

Zweitausendunddrei, der Glutsommer. Die Erde der Ufergegenden, der Löss des Wagram, der schwarze Grund vom Tullnerfeld waren längst rissig und aufgesprungen, die Nachrichtensprecher und Nachrichtenmagazine plapperten von Jahrhundertdürre, da wurde es in Kritzendorf so heiss, aber auch so schön wie selten zuvor.

Wer unter den Siedlern jetzt seinem Häuschen untreu geworden war, um woanders Ferien zu machen, dem vertrocknete alles Grün binnen Tagen, die Dagebliebenen gossen dreimal am Tag mit knapper werdendem Wasser, die ewigen Heimwerker gaben sich endlich einmal den Aussentemperaturen geschlagen und ruhten unter den staubigen Kronen enormer Linden.

Den Bootsstegbesitzern und Wasserskischulbetreibern verlandeten die Stege, die Donau sank, ein fast anderthalb Jahrhunderte lang regulierter Strom bekam in der Gluthitze so etwas wie ein wilderes Gesicht zurück. Weite Buchten mit Landzungen entstanden, wo der Flussgrund und seine Untiefen über den Wasserspiegel traten. In diesen Lagunen wateten Reiher, darüber kreisten Möwen, die Fische waren leicht zu fangen. Breit und frei waren die Strände.
Dieses ältere Haus am Ostrand der Siedlung brannte ab, Kabelbrand traf auf Glutsommer, ansonsten: kein Blut, keine Tränen, bloss Schweiss.

Zweitausendvier? Niemand vermag es bis jetzt zu sagen. Bisher verhält sich der Sommer ruhig. Spät in die Gänge gekommen zwar, dann aber recht normal. Verdächtig normal, könnte man meinen.
Glücklich schreiend kreist ein Bussard über den hölzernen Türmen des Strombadportals. Die alte Dame mit dem Turban auf dem Kopf kehrt von der zweiten Hälfte dessen zurück, was man als das grosse Kritzendorfer Vergnügen bezeichnen könnte.

Man wandert dabei den Treppelweg stromaufwärts, bis dahin, wo die Häuser und Hütten schütterer werden, dann schlägt man sich durch Brachland oder Auwald ans Wasser durch.

Hier geht man hinein und lässt sich stromabwärts treiben, gleichmässig vorangedrückt von der ruhigen Hand eines entgegen dem Klischee grünlichen, kühlen, aber nicht kalten Stromes. Kritzendorf zieht jetzt wie ein Film vorbei. Die Au, die Kiesstrände, die Badenden, die Kinder, die Hunde. Von einem kleinen Feuer erwischt man den Geruch von gebratenem Fleisch. Wo man ein Lager hat, ein Häuschen, ein sonstiges Ziel steigt man wieder aus dem Fluss.
Die Dame kehrt zu ihrer Freundin im bunten Badeanzug zurück, die auf einem Bankerl gewartet hat. Sie schlägt sich mehrfach klatschend auf den Hals.

Ich werd dir sagen, sagt sie, was der mit seinem Blutsommer gemeint hat. Noch ein Schlag. Ein kleiner Blutfleck zerrinnt. Die Gelsen, sagt die Turbanträgerin. Die waren das letzte Mal neunundneunzig so arg.

(Quelle:  Ernst Molden (Die Presse)

 

Die Riviera an der Donau

Gleichgültig, ob man von Passau stromabwärts den Radweg nach Wien nimmt oder von dort donauaufwärts dem Treppelweg entlang dem Wasser folgt, oder ob man mit dem Auto fährt , sollte man an der Donau einen Halt einplanen. Hier hat sich nämlich, mitten in den urwaldähnlichen Auen des grossen Stromes ein besonderes Kleinod erhalten. Abseits von den Tourismusströmen und entfernt von den überfüllten Bädern in und um Wien lässt es sich im Strombad Kritzendorf noch ruhig träumen. Heute ist das Bad ein Geheimtip für jene, die zwischen Nostalgie und Vergessen dennoch in der Gegenwart ankommen wollen. Durch die uralten Aubäume weht eine leichte Brise und die blau-grünen Blätter der Pappeln spenden einen wohl tuenden Schatten.

Manchmal fliegt ein Silberreiher über die Köpfe. Die zahlreichen Donauarme haben ein Netz von Kanälen geschaffen, die ruhig vor sich hinfliessen und in denen der riesige Auhirsch wohnt. Mitten in diesem Refugium der Natur kann man im Strombad Kritzendorf auf einer sattgrünen Wiese hingebreitet den Schiffen zusehen, wenn sie sich die Donau aufwärts gegen die Stömung vorwärts kämpfen und die Wellen bis an den Strand tragen. Da braucht man nicht in die Ferne fahren, denn sie zieht vor den eigenen Augen geruhsam vorbei. Taucht man in einem jener Momente in das Wasser, so vermeint man nicht einfach irgendwohin entrückt zu sein. Man könnte am Meer liegen, an der Riviera oder vielleicht an der Ostsee, denn das Wasser ist hier gegen jede Erwartung ungewöhnlich frisch.

Der Eintritt in das Bad erfolgt heute kostenlos, denn eigentlich ist es gar kein Bad mehr, das steht nur noch, der Gewohnheit entsprechend, über dem Eingang. Im Gegensatz zu den öffentlichen Anstalten existiert hier erfreulicherweise kein Aufsichtsorgan, das die Kriterien eines richtigen Bades erfüllen würde und anstelle eines mit chlorgefüllten Kunstbeckens bietet die Donau selbst eine Schwimmmöglichkeit. Zutritt erhält man in das Areal durch einen Torbogen aus Holz, um den herum in einem Rondeau die winzigen Umkleidekabinen angelegt sind. Oft nur 10 m² gross, können sie auf 90 Jahre hin gepachtet werden.

Liebevoll gepflegt und heiss begehrt stehen sie im Kontrast zu den geschlossenen Türen ehemaliger Geschäfte. Nur die Werbeplakate an den Wänden, die schon historischen Wert besitzen, erinnern an das rege Leben früherer Zeiten. Ein einziger Laden hat sich bis heute gehalten. Dies ist dem iranischen Pächter zu danken. Bei ihm kann man auch am Sonntag Obst und Gemüse kaufen oder jene Dinge erstehen, die man vielleicht beim hektischen Marsch durch einen der Supermärkte vergessen hat. Als besondere Attraktion des Musik liebenden Inhabers wird auf einer Bühne jeden Samstag und Sonntag ab 15 Uhr Tanzunterricht gegeben. Dann verwandelt sich die Sommerfrischenatmosphäre und erhält kosmopolitische Züge. Karibische Rhythmen mischen sich mit persischen und auch der Meister selbst tanzt vor dem Publikum. Er hat einen eigenen Verein, „Esperanto paradizo“, gegründet, und knüpft damit direkt an die alten Traditionen und an die Geschichte des Bades an.

Den Aufstieg verdankt das kleine Dorf am Strom, das sich zwischen Wald und Wasser zusammendrängt, dem Wiener Kongress. Als dieser tanzte, begann der langsame, aber kontinuierliche Aufstieg zur Wiener Sommerfrische. Der kleine Ort, dessen Bevölkerung von Wein und Obstbau lebte, entsprach ganz den Vorstellungen des Bürgertums. Politisch enttäuscht und durch die strengen Disziplinierungsmassnahmen der kaiserlichen Obrigkeit in die Privatheit gedrängt, suchte man hier biedermeierlich romantisierend die heile Welt einer unberührten Natur. Natürlich soll schon Mozart dieses Idyll entdeckt und hier bei einem Ausflug in das ländliche Grün bei einem sonnabendlichen Musizieren selbst zur Violine gegriffen haben. Auch Trotzki mietete sich um 1907 ein und genoss die Ruhe. Die enge Verbindung des Dorfes zu Wien war offensichtlich · ein reger Austausch gegeben. So versorgten die Gärten die Stadt mit frischem Obst, die örtlichen Spitzen fleissiger Frauenhände gelangten bis nach Paris und in Kritzendorf gebrannte Ziegel an die Wiener Ringstrasse. Die Firma Morawsky aber fertigte nach dem Zweiten Weltkrieg die neuen Gondeln für das Wahrzeichen Wiens “ das Riesenrad im Prater “ an.

Die Bahn als Schrittmacher

Der wirkliche Einbruch in die verschlafene Ruhe der Winzer und Obstbäuerinnen aber erfolgte durch die Errichtung der Franz-Josefs-Bahn. Als sie 1870 in den Westen Wiens vorstiess, erfolgte ein rapider Strukturwandel der Gegend, der von den Einheimischen nicht nur mit Freude begrüsst wurde. Bitten der Ortsansässigen an die Behörde, die Fahrpreise anzuheben, machen deutlich, dass die neuen Gäste nicht nur willkommen waren. Die sanfte ländliche Opposition verflog jedoch, als die Reblaus in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen ökonomischen Einbruch verursachte. Da ein Grossteil der Bevökerung vom Rebensaft lebte, zwang sie die Not oft, ihre Grundstücke zu verkaufen oder wirtschaftlich umzudenken. Rettung kam durch die Johannisbeere, auch Ribisel genannt. Die von der Reblaus zerstörten Weinreben wurden durch ganze Ribiselkulturen ersetzt, die in der Folge zu einer regionalen Berühmtheit avancierten. Anstelle der Trauben benützte man nun die roten Beeren, um jenen köstlichen Wein zu machen, dem bald ein gefährlicher Ruf anhaftete. Der Ribiselwein wurde zum neuen Markenzeichen der Region. In Kombination mit der lokalen Aufschliessung durch die Bahn erhielt der Ort eine neue Attraktion. Das Erholung suchende Bürgertum pilgerte im Sommer in Scharen zu den Gasthäusern und ihren Spezialitäten. Man erfrischte sich nicht nur bei einem Spaziergang durch die Wäldern sondern auch bei einem guten Schluck.

Ebenso wie die Metropole Wien wuchs in der Folge auch der Ort um die Jahrhundertwende in ungeheurem Ausmass. Die Bevölkerung verdoppelte sich. Zugezogene Geschäftsleute, Beamte oder Angestellte bildeten bald die Mehrheit. Man baute ein eigenes Heim oder mietete sich über den Sommer in einem Winzerhaus ein, dessen Inhaberinnen währenddessen in die Mansarde ziehen mussten. Der soziale Gegensatz zwischen den Einheimischen und den reichen Stadtmenschen bedurfte einer Adaption. Nicht zuletzt bot der wirtschaftliche Aufschwung des Landes durch das Geld der Stadt eine Versöhnungsmöglichkeit. Im Sommer wurde das Dorf am Strom zu einer Dependance der Hauptstadt. Die Krönung des neuentdeckten Paradieses, in dem man sich etwas von der Sehnsucht nach einer heilen Welt erhalten wollte, war schliesslich die Errichtung eines eigenen Bades im Jahre 1903. Ganz im Zuge der Zeit, in der körperliche Betätigung modern wurde, man die Gesundheit durch Sonnenbaden, Kuraufenthalte in frischer Luft, Schwimmen, Rad fahren oder Wandern erhalten wollte, wuchsen in der näheren und weiteren Umgebung Wiens die Sommerfrischen nur so aus dem Boden. Die Bäder im Süden der Hauptstadt nahmen mondänen Charakter an. In Baden sorgten Kurtheater und Kurmusik für Abwechslung der meist grossbürgerlich-adeligen Klientel. Die frische Bergluft des Semmerings wurde im Sommer der Zielort von Intelektuellen, Künstlern und Künstlerinnen. Kritzendorf erschien im Vergleich damit wie das Aschenputtel. Wie im Märchen aber besass es einen Schatz. Mit seiner Nähe zur Residenzstadt bot es ein ideales Naherholungsgebiet. Hierher konnte man vor allem zu einem kurzen Ausflug an den Wochenenden oder sogar spontan an einem Wochentag fahren. Bereits um die Jahrhundertwende lockten zwölf empfehlenswerte Radpartien nach Kritzendorf. Für Frauen war das Radeln der schnellste Weg geworden, ihrem engen Korsett zu entkommen, und in die Freiheit zu fahren. Sie liessen sich auch nicht durch die schlechten Strassen mit ihren zahlreichen Schlaglöchern entmutigen.

Durch die Errichtung des Bades erhielt der Ort eine neue Beliebtheit, der den anderen Sommerfrischen heftige Konkurrenz machen konnte. Die Wiener Kunstszene folgte dem Ruf umgehend. Peter Altenberg oder Lina Loos waren hier ebenso anzutreffen wie Franz Karl Ginzkey oder Franz Theodor Csokor. Aber auch die Geschäftsleute fehlten nicht und bildeten im Gästebuch des einzigen Dorfgasthauses bald einen Schwerpunkt. Nicht untypisch ist der Zuzug von Peter Menth im Jahre 1888. Er hatte als normaler Schuster begonnen, durch Geschick und Fleiss den sozialen Aufstieg geschafft und war in der k. u. k. Monarchie eine Berühmtheit geworden. Seine handgemachten Schuhe waren so begehrt, dass österreichische und ausländische Majestäten zu seiner Kundschaft zählten. Im berühmten Markartaufzug der Wiener Ringstrasse hatte er in seinem pompösen Kostüm als Hans Sachs die Schusterzunft angeführt und damit für alle sichtbar seinen Wohlstand demonstriert. Er wurde auch, gemäss seinem Wunsch, als Hans Sachs bestattet und ruht nun auf dem Ortsfriedhof. In Kritzendorf aber kaufte er ein kleines Winzerhaus, vergrösserte es und konnte es in der Folge, geschäftstüchtig wie er war, an fünf Parteien vermieten. Keine Frage, dass auch seine Familie hier eine Sommerwohnung besass.

Den Höhepunkt des Strombades markierte jedoch nicht die Jahrhundertwende, sondern die Zwischenkriegszeit. In den durch Inflation geschüttelten goldenen zwanziger Jahren explodierte die Beliebtheit des Bades geradezu. Arbeitslose Frauen wurden zur Badeaufsicht herangezogen und erhielten nicht nur gutes Geld, sondern auch immer wieder Kleiderspenden der Wohlhabenden. Sogar ein eigener Badearzt war anwesend. Entlang der Donau gab es eine 2 km lange Badezone, hinter der sich die Kabinen, einem Zaun ähnlich, auffädelten. Im „Rosenviertel“ durfte man eine Kabine nur dann beziehen, wenn man gleichzeitig zwei Rosensträucher pflanzte. Ein 800 m langer Sandstrand war mit Badekörben gesäumt. Mit der Umbenennung in „Kritze les Bains“ gab man sich international. Ein eigener Musikpavillon wurde an den Wochenenden sogar von Mitgliedern der Wiener Symphoniker bespielt. Man hörte Aida, aber auch die wilden Rhythmen von Foxtrott und Jimmny. Da man hier hauteng im Badekostüm öffentlich tanzte, gab es immer wieder Skandale, bevor sich der neue Trend endgültig durchsetzte. Ein Boxring und ein Freilichtkino sorgten ebenso für Kurzweil wie die Schwimmschule oder der Sportplatz. Hier turnte man auf Ringen und Seilen oder spielte gegen den Tormann des österreichischen Wunderteams. Konnte er dreimal den Ball halten, so musste der Schütze 10 Schilling an ihn bezahlen.

Badefreuden

In der Holzkonstruktion eines Badesteges hatte man einen überdimensionierten Freiraum gelassen, in den man einen eigenen Badekorb einbaute. Hier tauchten die Gäste in das kühle Nass, ohne Gefahr zu laufen, von der Strömung abgetrieben zu werden. Auch für Kinder war Vorsorge getroffen. In einem eigens abgetrennten Kinderbecken lernte so mancher Nachwuchs sicher das Schwimmen. Auf der Holzbrücke über dem Eingang befand sich eine Sonnenterrasse, die nur Frauen zugänglich war. Hier konnten sie ungesehen von neugierigen Blicken nackt baden. Ein besonderer Tip war jedoch die inoffizielle Freikörperkultur am anderen Ufer der Donau. Auf der so genannten Liebesinsel spielte sich so manche Affäre ab, ganz zu schweigen von den lauschigen Plätzen im wilden Dschungel der Auen, die ihre Geheimnisse nicht preisgaben.

Das Bad entwickelte sich zu einem offiziellen und inoffiziellen Treffpunkt. Kunst und Geschäft fanden hier jenen Ort, der sich berührte, ohne sich zu genieren. Im Badekostüm wurden alle gleich.

Heimito von Doderer verewigte in seiner Strudelhofstiege den „grau-grünen Schaum der Auwälder“ und die Erinnerungen an eine Liebe. Die ortsansässige Dichterin Erika Mitterer hatte mit Rilke korrespondiert und die österreichische Segelflugmeisterin Tamara Brück schlug hier ebenso ihre Sommerresidenz auf wie der Schauspieler Carl Forest. Er war ein „Linker“ ebenso wie der Finanzstadtrat Hugo Breitner, der in der Donaustadt eine Wohnbausteuer eingeführt und damit die weltberühmte Architektur des „Roten Wien“ möglich gemacht hatte. Dann war er nach Kritzendorf gezogen. Viele wohnten jedoch nicht im Ort, sondern in jenen Häusern, die sich neben dem Bad zu einer neuen Subkultur des Seins zusammenschlossen. Um durch ein mögliches Hochwasser nicht Schaden zu nehmen, hatte man sie vorsorglicherweise auf Stelzen gebaut. Die Architekur dieser Pfahlbauten ist oft beachtenswert. Eine Vielfalt von Ideen spiegelt sich wider: zwischen der Sachlichkeit des Bauhauses und der Neoromantik. Besonderes Aufsehen erregte der Wiener Grossindustrielle Julius Meinl II in den dreissiger Jahren. Als ihm die um 40 Jahre jüngere japanische Sängerin Michiko, durch die Liebe entflammt, zu neuer Jugend verhalf, kommentierte die Presse: „Kaffekönig heiratet Teeblüte“. Als Ausdruck seines Glückes wählte der König Kritzendorf. Am Strom liess er seiner jungen Frau eine japanische Villa errichten. Innen mit Bambus und Seide ausgekleidet, aussen mit Wasserspeiern versehen, wurde das japanische Haus von den Einheimischen bald nur noch als „Chinesentempel“ gehandelt.

„Ausverkauft!“

Die Züge verkehrten an den Wochenenden nach Bedarf. Der erste Zug fuhr zeitig am Morgen um 4.25 Uhr von Wien ab, der letzte um 11.30 Uhr. Die Nachtschwärmer hatten jedoch noch um 1.15 Uhr Gelegenheit, vom Land in die Stadt zu gelangen. Eine Errungenschaft, der man heute nur nachtrauern kann. Bis zu 20.000 Menschen strömten an den Wochenenden nach Kritzendorf. Der ganze Ort blühte und so wurde im Bad immer wieder die blaue Flagge gehisst, die allen signalisierte: „Ausverkauft!“

Der Zweite Weltkrieg beendete radikal das rege Treiben. Die Aufbaugesellschaft der Nachkriegszeit entwickelte in der Folge ein neues Freizeitverhalten. Anstatt in das Bad am Strom fuhr man an das Meer nach Italien oder wählte fernere Ziele. Der hölzerne Badekorb war verheizt worden, in den siebziger Jahren wurde der Eintritt abgeschafft und der offizielle Badebetrieb aufgelassen. Gleichwohl erhält das Donaurestaurant „zum Kropacek“ bis heute trotz Besitzwechsel seine Beliebtheit.

Auch der Ort selbst veränderte sich durch neue Besitzverhältnisse, die die Sozialstruktur verwandelten. Als beliebter Hauptwohnsitz für Neuzugezogene gibt er sich wieder kosmopolitisch. Der Dirigent aus Deutschland, die Direktorin der Musikschule aus Griechenland, der Pfarrer aus Schwarzafrika oder die persische Gründung von „Esperanto Paradizo“ setzen neue Akzente. Die private Freiraumschule existiert seit sechs Jahren, beheimatet 25 Kinder und knüpft mit ihrer alternativen Ausrichtung an die sozialen Experimente der Jahrhundertwende an. So lohnt es gerade heute wieder, dieses kleine Eldorado aufzusuchen, unter den Kastanienbäumen des Landgasthauses zum Preisecker die Kulinaritäten der Küche zu geniessen, während der Blick über die Aulandschaft abschweift, in der das Strombad Kritzendorf geruhsam auf seine Liebhaber und Liebhaberinnen wartet.

Lisa Fischer, Wiener Zeitung 24.9.1999