Die Strombadsiedlung Kritzendorf, von einer Ausstellung im Wien Museum gerade als „Riviera an der Donau“ gefeiert, erweist sich bei näherem Hinschauen als sperrige Schönheit, die von ihren Bewohnern vor allem zwei Dinge verlangt: Hingabe und Treue.
Bleibt der Sommer friedlich? Diese Frage stellt der Kritzendorfer Siedler leise. Die anderen, etwas lauteren Gespräche prangern eine noch immer nicht restlos aufgeräumte Brandruine an der Ostflanke der Siedlung an, behandeln die nervige Pumpe im Schwimmbad des A., kritisieren die schlimmen Kinder der B. oder analysieren den Sauhaufen im Garten der Cs., nach deren grossem Grillfest, das die konsensual festgelegten Lärmvorschriften doch eindeutig verletzt habe.
Noch lauter wird der Siedler, wenn er erklärt, dass der Wirt des Donaurestaurants heute, und zwar nur noch heute, dieses erstklassige Schwammerlgulasch auf der Karte habe, oder wenn er beklagt, dass die zweite am Gestade gelegene Restauration, der Sienel, wegen „Überlaufenheit“ durch Radlfahrer kaum noch zu besuchen sei. Oder wenn der nächste vom Besuch dieser Ausstellung im Wienmuseum berichtet, wo unter dem schmeichelnden Titel „Kritzendorf, Riviera an der Donau“ das Leben am Fluss wieder ein bisschen einfacher geredet werde, als es eigentlich sei.
Augenblicklich wirkt alles ganz leicht: Die Riesenweiden links und rechts der Strombadwiese fächeln sacht mit ihren ausladenden Ästen. Metallisch arbeitet der Wind in den Blättern der Pappeln. Schilf raschelt. Nur die von vereinzelten Föhren fallenden Bockerln fetzen manchmal durch die Siesta. Kinder erbetteln das dritte Eis des Tages.
Doch man weiss: Im Perfekten nistet die Panik. Und der Mensch im Inneren der Idylle macht gern die Apokalyptik zu seinem Steckenpferd.
Bleibt der Sommer friedlich? Zwei alte Damen stehen am Treppelweg im Schatten der Weiden. Die eine steckt im multicoloren einteiligen Badeanzug, die zweite trägt ein Kopftuch wie einen Turban. Ihr Schwiegersohn, bemerkt die erste, habe ja lange Zeit in Ägypten gearbeitet, und dort gebe es diese ganz und gar schreckliche Prophezeiung, wonach auf einen Flutsommer und einen Glutsommer stets und verlässlich ein Blutsommer folge.
Die zweite kündigt an, sich jetzt langsam auf den Weg stromaufwärts zu machen. Der Spaziergang, ergänzt sie, sei ja bekanntlich die erste Hälfte des Vergnügens. Erst dann komme das Bad.
Am Grund der Hölle. Im Flutsommer zweitausendundzwei war hier das Klo der Welt, war hier der Schauplatz der geheimen Offenbarung, war hier ein Spiegelbild des Rio Grande am Grund der Hölle.
Diese Flut, die gross genug war, dem österreichischen Finanzminister sein Nullbudget zu vermiesen und dem deutschen Bundeskanzler seiner Gummistiefel wegen zur Wiederwahl zu verhelfen, sie schmiss sich mit allem, was an ihr übel war, auf Kritzendorf, den treuesten Garten des Stromes Donau. Ein Vorbote der Flut, ein kleineres Hochwasser, kam schon im späten Frühjahr, im Juli erschien sie selbst, hielt kurz inne, und kehrte im August als alles verschlingendes Höllenwesen wieder. Nach ihr herrschten Verwüstung, Auflösung, Tristesse und Pestilenzgeruch. Die Flut hatte sämtliche Schleusen des Stromes geöffnet, aber sie hatte auch die Senkgruben zum Überschäumen, die Kanäle zum Platzen gebracht, und jener stumpf-schwarze Schlamm, der nun, nachher, über den Stränden, auf den Liegewiesen und meterhoch in den Gärten der Stelzenhäuser ausgebreitet lag, atmete den Geruch einer fäkalen, untoten Gegenwelt.
Als die Freiwillige Feuerwehr und die ersten Wassernachbarn mit ihren Zillen in die Kanäle aufbrachen, die vordem die Gässchen und Strassen der Siedlung Kritzendorf gewesen waren, erzählten sie von ganzen Dächern, die hunderte Meter von ihren Häusern entfernt an Auwaldriesen zerschellt waren, von Rehkadavern, die aufgeschlitzt in Gartenzäunen hingen, und sie berichteten von einer allgegenwärtigen, malzkaffeebraunen Flussbrühe voll Leben und Tod, die, einzige Verheissung, jetzt aufgehört habe zu steigen.
In den Monaten nach diesem von Kloakenwasser zerschmetterten Hochsommer nahmen die Kritzendorfer jedes Ding in ihren gefluteten Häusern (nur ganz wenige besassen Stelzen von einer Länge, die sie vor der Kloake beschützte) in die Hand, betrachteten und wogen es, und von zehn Dingen mussten neun weggeworfen werden. Sperrholzhaufen wie mehrstöckige Häuser wuchsen in den Knoten der Siedlung. Einige Siedler bauten neue Häuser, andere verkauften die ihren und zogen weg. Eine Siedlerin, die Jahrzehnte hier ist, sagt: Das Hochwasser macht alles kaputt, und dann mischt es die Leute neu.
Naturliebe & Ribiselwein. Es gibt ein Kritzendorfbewusstsein, und es gibt ein heterogenes Kritzendorfmilieu. In der Siedlung und dem dazugehörigen Strombad mischen sich seit mehr als einem Jahrhundert die besseren Seiten Niederösterreichs und Wiens und bekanntlich stehen einander Österreichs grösstes Bundesland und seine darin eingeschlossene grösste Stadt, zartfühlend gesagt, argwöhnisch gegenüber.
Nicht hier: Franz-Josefs-Bahn und der Wille zum jungen Ritus Sommerfrische beförderten zur vorletzten Jahrhundertwende die Hauptstädter nach Nordwesten, wo sie den Liebreiz ihres hier noch unschuldigeren und reineren Stromes entdeckten. 1903 eröffnete das Strombad, und die ersten bewohnbaren Badehäuschen, nach einem frühen jüdischen Siedler die Löwensteinhütten genannt, wurden bezogen.
Wanderbewegung, Naturliebe und Körperkultur, soziokulturelle Novitäten in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, standen ebenso hinter dem durchschlagenden Erfolg des Konzeptes Kritzendorf wie der süsse Ribiselwein, für den die Gegend vor hundert Jahren berühmter war als für den heute verbreiteten reschen Weissen.
Metropolenkultur in Ferien, die sich bis heute etwa am Semmering und in Reichenau sommers zu etablieren pflegt, strebte damals auch donauaufwärts, Konzerte, Tanz-Soires und gesellschaftliche Grossereignisse unter Mitwirkung der Kunstprominez bildeten die Säulen, zwischen denen das Kritzendorfer Sommergefühl wie ein feines Netz hing.
1938 ff. wurden mehr als drei Viertel der Kritzendorfer Häuser als jüdischer Besitz enteignet und arisiert. Sieben Jahre lang tobten sich die Nazis und ihre Hofschranzen am Donauufer aus. Zu Kriegsende 1945 setzte der Kritzendorfer Bürgermeister Hans Reif einen für österreichische Verhältnisse einmaligen Akt und enteignete alle Ariseure mit einem einzigen Entscheid. Dennoch kehrten kaum Vertriebene in das alte Krize-les-Bains zurück, sie verkauften ihre Hütten und Häuser, und das, was hier ein, zwei Jahrzehnte ein bisschen nach weiter Welt und Riviera gerochen hatte, verschwand.
Heute ist Kritzendorf, was es angenehm macht, eine schwer einzuordnende Mischung von Menschen ostösterreichischer Prägung. Snobs hausen Zaun an Zaun mit Mundls. Wiener Künstler verblassen neben Originalen, die hier am Wasser weltberühmt sind. Man duldet und erduldet sich.
Amir, der türkischstämmige Greissler des Strombads, ein Esperanto-Aktivist und Philantrop, verkauft Wurstsemmeln und gefüllte Weinblätter, Schwimmflügerln und betagte Illustrierte. An den Abenden stellt er einen kleinen Tanzboden auf und veranstaltet Sambakurse, und manchmal ist wieder ein Hauch der alten Rivieragefühle da.
Das Bad lässt jeden ein, der Eintritt ist frei, und auf sehr spezielle Art reinigt die Donau alle.
Zweitausendunddrei, der Glutsommer. Die Erde der Ufergegenden, der Löss des Wagram, der schwarze Grund vom Tullnerfeld waren längst rissig und aufgesprungen, die Nachrichtensprecher und Nachrichtenmagazine plapperten von Jahrhundertdürre, da wurde es in Kritzendorf so heiss, aber auch so schön wie selten zuvor.
Wer unter den Siedlern jetzt seinem Häuschen untreu geworden war, um woanders Ferien zu machen, dem vertrocknete alles Grün binnen Tagen, die Dagebliebenen gossen dreimal am Tag mit knapper werdendem Wasser, die ewigen Heimwerker gaben sich endlich einmal den Aussentemperaturen geschlagen und ruhten unter den staubigen Kronen enormer Linden.
Den Bootsstegbesitzern und Wasserskischulbetreibern verlandeten die Stege, die Donau sank, ein fast anderthalb Jahrhunderte lang regulierter Strom bekam in der Gluthitze so etwas wie ein wilderes Gesicht zurück. Weite Buchten mit Landzungen entstanden, wo der Flussgrund und seine Untiefen über den Wasserspiegel traten. In diesen Lagunen wateten Reiher, darüber kreisten Möwen, die Fische waren leicht zu fangen. Breit und frei waren die Strände.
Dieses ältere Haus am Ostrand der Siedlung brannte ab, Kabelbrand traf auf Glutsommer, ansonsten: kein Blut, keine Tränen, bloss Schweiss.
Zweitausendvier? Niemand vermag es bis jetzt zu sagen. Bisher verhält sich der Sommer ruhig. Spät in die Gänge gekommen zwar, dann aber recht normal. Verdächtig normal, könnte man meinen.
Glücklich schreiend kreist ein Bussard über den hölzernen Türmen des Strombadportals. Die alte Dame mit dem Turban auf dem Kopf kehrt von der zweiten Hälfte dessen zurück, was man als das grosse Kritzendorfer Vergnügen bezeichnen könnte.
Man wandert dabei den Treppelweg stromaufwärts, bis dahin, wo die Häuser und Hütten schütterer werden, dann schlägt man sich durch Brachland oder Auwald ans Wasser durch.
Hier geht man hinein und lässt sich stromabwärts treiben, gleichmässig vorangedrückt von der ruhigen Hand eines entgegen dem Klischee grünlichen, kühlen, aber nicht kalten Stromes. Kritzendorf zieht jetzt wie ein Film vorbei. Die Au, die Kiesstrände, die Badenden, die Kinder, die Hunde. Von einem kleinen Feuer erwischt man den Geruch von gebratenem Fleisch. Wo man ein Lager hat, ein Häuschen, ein sonstiges Ziel steigt man wieder aus dem Fluss.
Die Dame kehrt zu ihrer Freundin im bunten Badeanzug zurück, die auf einem Bankerl gewartet hat. Sie schlägt sich mehrfach klatschend auf den Hals.
Ich werd dir sagen, sagt sie, was der mit seinem Blutsommer gemeint hat. Noch ein Schlag. Ein kleiner Blutfleck zerrinnt. Die Gelsen, sagt die Turbanträgerin. Die waren das letzte Mal neunundneunzig so arg.
(Quelle: Ernst Molden (Die Presse)