Kritz les bains

Einst mondäner Badeort, heute verschlafenes Natur- und Architekturidyll, in dem man das Flair der Vergangenheit immer noch spürt: Das Strombad Kritzendorf wird heuer hundert Jahre alt.

Die Donau ist ruhig. Eine Schwimmerin lässt sich mit der Strömung treiben, zwei Ruderer ziehen mit ihrem Boot vorbei, ein Schlepper tuckert gemächlich dahin. Am Schotterstrand räkeln sich Badegäste in der Sonne, Paare spielen auf der Wiese Frisbee.

„Man kann hier den ganzen Sommer verbringen“, sagt Herr W.. Statt auf Urlaub zu fahren, verbringt der Klosterneuburger seit mittlerweile zehn Jahren die Sommermonate mit Frau und Kind in seiner kleinen 40-Quadratmeter-Hütte im Kritzendorfer Strombad. Noch vor einem Jahr türmte hier die über die Ufer getretene Donau Tonnen an Sand und Schlamm auf. Im Garten der Familie stand der Schutt einen Meter hoch. Längst sind die Spuren des Jahrhunderthochwassers beseitigt. Strandidylle pur.

Vor genau hundert Jahren wurde das Strombad Kritzendorf eröffnet. Zu seiner Hochblüte in der Zwischenkriegszeit tummelten sich an schönen Wochenenden entlang des Donauufers bis zu 12.000 Menschen aus allen sozialen Schichten. Künstler und wohlhabende Geschäftsleute hatten hier neben den Kabinen gewöhnlicher Arbeiter ihre Häuschen. Zusammen mit Klosterneuburg und Greifenstein galt Kritzendorf als das Naherholungsgebiet der Wiener. 1938 wurde die großteils jüdischstämmige Bevölkerung aus dem Bad vertrieben, wurden ihre Häuser „arisiert“. Nach dem Krieg schloss das Strombad nie wieder an seine Glanzzeit an. In den Siebzigerjahren wurde der offizielle Badebetrieb eingestellt.

Heute wirkt das Strombad selbst an sonnigen Tagen verschlafen. Die Idylle und das Flair zwischen den sehenswerten Pfahlbauten locken dafür auch wieder viele junge Leute ins 15 Kilometer von Wien entfernte Dorf am Strom. „Die Großeltern waren schon da, und die Enkelkinder entdecken das Bad jetzt wieder“, sagt Lisa Fischer, die anlässlich des Jubiläums ein Buch über die Geschichte des Bades geschrieben hat. Die Historikerin und Soziologin ist selbst begeisterte Kritzendorf-Besucherin. Einer ihrer Lieblingsplätze ist beim ehemaligen Gasthaus Kropacek, früher ein nobler Schiffsanlegeplatz, ein paar Schrite vom Eingangsbereich die Strandpromenade hinunter: „Das ist hier immer noch ein Geheimtipp“, sagt die Autorin. „Bei Sonnenuntergang warte ich, bis die beleuchteten Passagierschiffe kommen. Dann ist es hier fast wie am Meer.“

Wer durch das große Eingangsportal – eine hölzerne Brücke mit zwei Türmen – an die Donau kommt, dem erschließt sich der wirkliche Charakter des Strombades nicht sofort. Entlang enger Wege reihen sich Kästchen, Kabinen, Hütten, Kabanen und kleine Villen. Die inmitten des Auwaldes gelegene Badesiedlung ist regelrecht in Minigrätzl aufgeteilt. Immer wieder spiegelt sich in der Architektur die Nähe zum Wasser wider: Einige der – zumindest äußerlich – noch gut erhaltenen Wochenendhäuschen haben Fenster wie Bullaugen. An der Fassade eines Strandhauses hängt ein kleiner Anker, ein Raum im Inneren soll wie die Bar einer Schiffskajüte gestaltet sein. Die Klosterneuburger Wagenfabrik ließ Ende der Zwanzigerjahre in der Siedlung Fertigteilhäuser in drei verschiedenen Varianten errichten. Das größte Modell sieht mit seinen drei Terrassen fast aus wie ein Hausboot.

In den von der Wirtschaftskrise gebeutelten Zwanziger- und Dreißigerjahren suchten viele Wiener Künstler und Geschäftsleute in der Kritzendorfer Sommerfrische Ablenkung vom Alltag. Hier gab man sich mondän, die oft nur wenige Quadratmeter kleinen Häuschen nannte man Villa oder Cottage und gab ihnen liebevoll-ironische Namen. Der „Mückenstiftskeller“, einst Ferienhaus des Industriellen Wilhelm Blaschczik, erinnert noch heute an die Gelsenplage, die gelegentlich die Idylle im Strombad etwas trübt. Um ein Ende der Zwanzigerjahre im asiatischen Stil erbautes Haus hat sich im Dorf bis heute ein Mythos erhalten: Die auch „Chinesentempel“ genannte Villa wird dem damaligen Wiener Kaffeekönig Julius Meinl II. zugeschrieben. Er soll das Haus für seine Ehefrau, die um vierzig Jahre jüngere japanische Opernsängerin Michiko Tanaka, gebaut haben. Tatsächlich war die Villa, wie Lisa Fischer in ihrem Buch aufklärt, in Wirklichkeit einfach ein asiatisch anmutender Sommersitz der Austria Brauerei – und hatte nie etwas mit der Meinl-Familie zu tun.

Im Rondeau vor dem Eingangstor betreibt Herr Amir sein „Esperanto Paradizo“. Der gebürtige Iraner lebt seit 24 Jahren in Österreich und ist der Nahversorger des Strombades. In seinem Minimarkt – gleichzeitig eine Art Minirestaurant – verkauft er Lebensmittel, Badezubehör, Spielzeug, Bücher und Lippenstifte. In der Rondeauhälfte vis-à-vis waren früher Feuerwehr und Gendarmerie, Geschäfte und eine Pediküre einquartiert. Jetzt hat Herr Amir die Räume gepachtet und veranstaltet dort Seminare und Tanzabende – in esperantistischer Mission. „Ich kämpfe hier seit 14 Jahren“, sagt er, „aber meine Bomben sind Tanz, Musik und Theater.“ In seiner Wohnung in einem Turm des Eingangstores – einen Stock höher auf der Terrasse durften früher die Damen nackt Sonnenbaden – stehen noch kaputte Kassen, Rechner und Kühlschränke herum; Ãœberbleibsel vom Hochwasser.

„Es gibt hier auch die typische Kultur der Gartenzwerge, des Rasenmähens und Gänseblümchenzüchtens“, erzählt Lisa Fischer. Nur wenige Schritte von den Wochenendvillen entfernt herrscht in der Hüttenzeile echte Schrebergartenidylle. Im Minigarten vor einer Hütte spielen ein paar Alte Karten. Wer allzu wenig Platz hat, improvisiert einfach: Die Bewohner der ehemaligen Bedienstetenquartiere etwa haben einfach die Holzstiegen und Balkone ihrer Kabinen zu prachtvollen Blumengärten umfunktioniert. Nach dem großen Hochwasser haben aber auch einige Bewohner genug von der Kleingartenidylle am Fluss. An vielen Häuschen in der Siedlung hängen Zettel mit der Aufschrift „zu verkaufen“.

Bereits im Gründungsjahr verschob die Hochwasser führende Donau den Eröffnungstermin des Bades. Damals wachten noch eigene Schwimmmeister über die Gäste. Wer sich nicht direkt in die Fluten des Stromes wagte, planschte in hölzernen Körben im Wasser. Mit der zweiten Ausbaustufe, ab 1926, erreichte das Bad seine gesellschaftliche Blütezeit. Der Architekt Heinz Rollig wurde mit der Umgestaltung beauftragt und errichtete das große Eingangsportal. Zahlreiche andere Baukünstler wie Adolf Loos, Felix Augenfeld oder Walter Loos sorgten mit ihren Bauten im Ort und im Bad dafür, dass Kritzendorf auch architektonisch ein Aushängeschild der „Weekend-Bewegung“ wurde.

Die Körperkultur befand sich damals auf ihrem Höhepunkt. Es galt als chic, in der kalten Donau zu schwimmen, man trieb Sport, in der Au konnte man Pärchen beim Liebesspiel beobachten. Das Idyll an der Grenze zwischen Stadt und Natur fand auch Eingang in die Literatur. Etwa in Heimito von Doderers (schon vor dem Anschluss ein bekennender Nationalsozialist) „Strudelhofstiege“ und Friedrich Torbergs „Tante Jolesch“. Journalisten, Künstler der Wiener Werkstätte und Gewerbetreibende feierten Feste im Badedorf, es gab anrüchige Jazz- und Tangokonzerte. In Anspielung an mondäne Riviera-Ferienorte nannte man Kritzendorf „Kritz les bains“. Selbst weniger betuchte Schichten konnten sich in der Siedlung kleine Kabinen leisten. Kritzendorf galt als „Paradies der Juden“. Die Vertreter der unterschiedlichsten politischen Couleurs residierten damals im Bad, doch die politischen Differenzen ließ man bei seinen Wochenendausflügen daheim in der Stadt.

Mit dem Anschluss an Nazideutschland, 1938, änderte sich das Klima radikal. Quasi über Nacht wurden achtzig Prozent der Badehäuschen „arisiert“, ihre jüdischen Besitzer enteignet und vertrieben. Im Oktober 1938 wurde Kritzendorf dem 26. Bezirk des neuen Groß-Wien eingegliedert. Die Nationalsozialisten hegten Umgestaltungspläne zu einem „Kraft durch Freude“-Bad, die allerdings nie umgesetzt wurden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Hans Reif provisorischer Bäderverwalter von Kritzendorf. In einer für Österreich einmaligen Aktion enteignete Reif sämtliche nationalsozialistischen Hausbesitzer. Aber kaum ein ehemaliger Eigentümer kehrte tatsächlich nach Kritzendorf zurück. Die meisten verkauften ihren Besitz – manchmal nach mühsamen und jahrelangen Prozessen mit den Nutznießern der „Arisierung“. 1954 – ein weiteres Hochwasserjahr – wurde Kritzendorf wieder aus Wien ausgegliedert und zur Klosterneuburger Katastralgemeinde. Trotz des anhaltenden Zuzugs ins Bad wurde in den Siebzigern der offizielle Betrieb eingestellt. Das Strombad genügte den Ansprüchen der Zeit nicht mehr.

Gegen früher ist das heute hier gar nichts mehr“, sagt Waltraud Wagner, um dann schnell hinzufügen: „Aber es ist immer noch paradiesisch.“ Wagner kennt das Bad schon seit ihrer Kindheit. Die älteste Bewohnerin der Siedlung – die niemandem ihr tatsächliches Alter verrät – lebt ganzjährig im 65-Quadratmeter-Haus, das ihre Eltern 1932 erbauen ließen. Nachbarn nennen sie liebevoll „Frau Bürgermeister“. Die ehemalige Opernsängerin und Sportschwimmerin zieht heute lieber in ihrem überdachten Pool ihrer Längen, anstatt wie einst in der kalten Donau von Greifenstein nach Kritzendorf zu schwimmen. Früher gab es hier Minigolfplätze, eine Kegelbahn und Tennisplätze, erzählt Wagner. Und die Wiener Symphoniker hätten hier Konzerte gegeben. Heute spielt eine Einmannband im Pavillon auf der Hauptwiese Schlagermusik.

„Die Leute, die das Bad noch aus der Zwischenkriegszeit kennen, sagen, dass es ein starke Veränderung gegeben hat“, weiß Lisa Fischer. „Für die anderen ist das hier auch wieder mit dieser alten Leidenschaft verbunden. Sonst würde man sich auch nicht in einem Risikogebiet ein Häuschen kaufen.“ Heute lebt wieder ein bunter Bevölkerungsmix in der Siedlung. Auch Künstler und prominente Journalisten haben hier wieder Ferienhäuser. „Es sind auch mehr einfache Leute, die Häuser sind ja leistbar“, sagt Herr W., der auch bemerkt haben will, dass „die Wiener Vorstadtmentalität“ stärker um sich greift. Seit Fischers Buch erschienen sei, würden auch viele Leute herkommen, „die nicht so herpassen“, findet der Familienvater, und muss dann über sich selbst grinsen. „Es ist einfach schwer, das Paradies teilen zu müssen.“

(Falter, 27.8.2003)